«Das Giesskannenprinzip bringt nichts» – «Anständige Arbeit soll anständig bezahlt werden»

2. Juni 2023 um 06:00 geschrieben von Lara Blatter

Die Stadtzürcher Stimmberechtigten entscheiden am 18. Juni über die Einführung eines Mindestlohns. Im Streitgespräch erklärt Gewerkschaftssekretär Björn Resener, warum Zürich einen Mindestlohn braucht. FDP-Präsident Përparim Avdili hält dagegen: Der Mindestlohn schade der Wirtschaft.

FDP-Präsident Përparim Avdili (links) und Gewerkschaftssekretär Björn Resener im Streitgespräch. (Foto: Lara Blatter)

Lara Blatter: Wie viel verdienen Sie?

Björn Resener: Aktuell verdiene ich brutto rund 7900 Franken.

Përparim Avdili: Meinen Lohn will ich nicht teilen, denn dieser tut nichts zur Sache.

Der geforderte Mindestlohn von 23.90 Franken pro Stunde entspricht bei einer Vollzeitstelle einem monatlichen Bruttoeinkommen von 4000 Franken. Würden Sie damit auskommen?

Avdili: Nein. Aktuell lebe ich alleine und bezahle alle meine Rechnungen selbst, da geht das nicht. Aber als ich jünger war und mit den Eltern zusammen im Familienhaushalt lebte, wäre das mehr als genug gewesen.

Resener: Als Vater von zwei Kindern, würde ich davon nicht leben können. Aber auch ohne Kinder wäre es schwierig, als erwachsener Mensch in Zürich mit 4000 Franken auszukommen.

Wer bezahlt denn heute noch Löhne, von denen man in Zürich nicht leben kann?

Avdili: Betroffen sind beispielsweise die Reinigungs- und Gastrobranche oder einige Jobs, die sich an Studierende richten. Oft sind es Einsteiger:innen oder Menschen ohne Ausbildung.

Resener: Dass vor allem Studierende in ihren Zwanzigern so wenig verdienen, stimmt nicht. Zwei Drittel der Menschen, die weniger als den geforderten Mindestlohn verdienen, sind älter als 30 Jahre alt, heisst, sie sind erfahren und stehen mitten im Berufsleben. Eine gelernte Coiffeuse im dritten Berufsjahr, Detailhändler:innen bei grossen Ketten wie Zara, Verkäufer:innen bei McDonalds, Reinigungskräfte – sie alle verdienen nicht 4000 Franken.

Avdili: Dazu gehören aber auch Menschen, die gar nicht mit dem Gedanken in einen Job gehen, dass sie mehr verdienen wollen. Sie leben in einem wohlhabenden Haushalt und wollen mit ihrem Beruf etwas Sinnstiftendes tun. Da ist es nicht die Aufgabe des Staates, solche Menschen noch staatlich zu unterstützen. Der Mindestlohn vergisst genau diese diversen Lebensmodelle, die wir haben. Wir können nicht davon ausgehen, dass alle alleine leben.

Resener: Auch wenn man als Frau einen reichen Mann geheiratet hat, möchte diese Frau finanziell unabhängig sein. Das ist ihr absolutes Recht. Finanzielle Selbstständigkeit ist die Grundvoraussetzung für Freiheit. Da sollte die FDP eigentlich auch ein Interesse daran haben.

«Das, was Dumpinglohn-Unternehmen mit ihren Geschäftsmodellen sparen, zahlt die Gesellschaft nach.»

Björn Resener

Përparim Avdili, ist dieses klassische Familienmodell, das Sie ansprechen, nicht etwas aus der Zeit gefallen? Zudem haben wir ja auch bei Ferien und Arbeitszeiten staatlich definierte Mindeststandards, warum nicht auch beim Lohn? 

Avdili: Die Frage ist, wie viel verträgt es, dass der Staat andauernd eingreift? Und Sie sprechen von aus der Zeit gefallen: Wir haben heute ein Arbeitszeitreglement, das nicht mehr zeitgemäss ist. Es wurde in Zeiten der Industrialisierung eingeführt.

Sprechen Sie sich also auch für eine Erhöhung der Arbeitszeiten aus?

Avdili: Ja, es sollte flexibler sein. In Dienstleistungssektoren haben wir teilweise absurde Situationen, wo sich Top-Banker:innen an Arbeitszeiten halten müssen.

blankPërparim Avdili (FDP) sieht durch den Mindestlohn auch die Attraktivität von Ausbildungen in Gefahr. (Foto: Lara Blatter)

Bleiben wir bei den Menschen, die keine Managerlöhne verdienen. In der Stadt Zürich könnten laut Lohnstrukturerhebung des Bundes rund 17’000 Personen vom Mindestlohn profitieren. Gemäss dem Hilfswerk Caritas sind es zu zwei Dritteln Frauen, die vor allem in Tieflohnbranchen wie Reinigung, Gastronomie oder Detailhandel tätig sind.

Resener: Ja, da sind wir beim Problem. Ein Grossteil der Personen, die in den Tieflohnbranchen arbeiten, kommen da nicht raus. Das, was Dumpinglohn-Unternehmen mit ihren Geschäftsmodellen sparen, zahlt die Gesellschaft aber später über die Ergänzungsleistungen nach. Wer sein Leben lang so wenig verdient, der:die wird von Altersarmut betroffen sein.

Ein Argument der Gegner:innen, dass auch Sie schon angesprochen haben, Përparim Avdili, ist, dass der Mindestlohn auch Menschen zugutekommt, die gar nicht in Armut leben würden.

Avdili: Genau, es gibt ein kleines Feld, wo tiefe Löhne ein Problem sind, aber da helfen wir nicht mit staatlich diktierten Löhnen, da braucht es andere Massnahmen.

Resener: Der Mindestlohn schafft die Armut nicht ab – da gebe ich den Gegner:innen recht. Für eine alleinerziehende Person mit drei Kindern zum Beispiel reichen auch 23.90 pro Stunde nicht, um in der Stadt Zürich zu leben. Aber Menschen, die Vollzeit arbeiten, sollen von ihrem Lohn leben können. Diesem Ideal wollen wir uns mit einem moderaten Mindestlohn annähern.

Avdili: Aber das Giesskannenprinzip des Mindestlohn bringt nichts, damit gefährden wir nur unsere Wirtschaft und die Arbeitsstellen, wir brauchen gute Rahmenbedingungen.

An welche Ansätze denken Sie denn, wenn es darum geht, Working Poors, also Menschen, die trotz Arbeit nicht genügend verdienen, zu unterstützen?

Avdili: Da sollte das Sozialhilfesystem greifen und in Zürich gibt es beispielsweise zig Menschen, die ungerechtfertigt in gemeinnützigen Wohnungen leben. Und Working Poors wäre viel eher geholfen mit einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV): Ich verstehe nicht, warum genau die Gewerkschaften die Errungenschaften der Sozialpartnerschaften torpedieren.

Die Mindestlohn-Abstimmung

Gewerkschaften, SP, Grüne und AL lancierten die Mindestlohn-Initiative. Vollzeit-Angestellte sollen von ihrem Lohn leben können. Zudem soll sich das Risiko, von der Sozialhilfe abhängig zu werden, reduzieren. Sowohl in Zürich wie auch in Winterthur fordert die Initiative konkret einen Mindestlohn von 23.90 Franken pro Stunde.

SVP, FDP, Mitte und GLP lehnen die Initiative ab. Sie erachten einen Mindestlohn als schädlich für die Wirtschaft. Die Unternehmen müssen so mehr für Löhne ausgeben, was Arbeitsplätze gefährden würde. Ausserdem schaffe ein Mindestlohn neue bürokratische Belastungen und mache Ausbildungen weniger attraktiv.

Björn Resener, Sie sind Gewerkschaftssekretär beim Gewerkschaftsbund Kanton Zürich. Warum wollt ihr mit dem Mindestlohn die bewährten Sozialpartnerschaften und somit branchenspezifische Lösungen aushebeln?

Resener: Laut dem Plakat der Gegenseite ist das das Hauptargument. Da wird ein Widerspruch erfunden, der nicht existiert. 95 Prozent der GAV sind von dem geforderten Mindestlohn von 23.90 Franken gar nicht betroffen, weil sie bereits einen höheren Lohn definieren. Es gibt aber Branchen, wie beispielsweise den Detailhandel, wo es keine allgemeingültig erklärten GAV gibt.

Wäre den Detailhändler:innen aber nicht mehr geholfen mit einem GAV?

Resener: Natürlich sind GAV besser als der Mindestlohn. Viele Angestellte im Verkauf sind zu Löhnen unter 4000 Franken angestellt und da kriegen wir es nicht hin zwischen den Sozialpartner:innen einen allgemeingültigen GAV zu erarbeiten. Und es gibt Branchen wie etwa die Reinigung, da reichen die GAV-Löhne nicht aus, um zu leben. Denn diese sind schweizweit gültig und der Verdienst mag vielleicht im Tessin reichen, aber in der Stadt Zürich nicht. Denn die Lebenshaltungskosten sind in Zürich höher als die in den GAV verhandelten nationalen Mindestlöhne.

Përparim Avdili, Sie sagen, dass die GAVs durch den Mindestlohn torpediert werden. Würden Sie sich denn als FDP-Politiker für GAVs stark machen?

Avdili: Diese Sozialpartnerschaften werden zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgeber:innen freiwillig ausgehandelt, wenn beide Seiten einverstanden sind, dann sind wir als Freisinnige die Letzten, die sich dagegen wehren. Denn das Gewerbe weiss genau, was sie ihren Mitarbeitenden zahlen können und was nicht. Was denken Sie denn, warum die Löhne teils tief sind? Weil die Wertschöpfung nicht mehr hergibt und nicht, weil sich die Chefs dicke Boni auszahlen.

«Das Gewerbe weiss doch, was möglich ist und was nicht. Arbeitnehmende wissen nur, was sie wollen.»

Përparim Avdili

Heisst demnach: Unternehmern wären eigentlich schon bereit, mehr zu zahlen, wenn sie könnten?

Avdili: Ja.

Resener: Das ist Quatsch. Wir sprechen hier nicht nur über Kleinunternehmen, sondern auch über börsenkotierte Gastro- und Modeketten. Alle Menschen in unseren Kampagnen sind reale Menschen mit sehr tiefen Löhnen. Warum glauben Sie, dass jemand, der bei Zara an der Kasse sitzt oder bei McDonalds hinter dem Tresen steht, keinen Lohn über 4000 verdient hat?

Avdili: Ich sage nur, dass all diese Menschen nicht per se von Armut betroffen sind.

Wer nicht von Armut betroffen ist, hat also kein Anrecht auf einen Lohn über 4000 Franken?

Avdili: Doch. Aber es braucht keinen staatlichen Eingriff. Unser Wirtschaftssystem ist so erfolgreich, weil wir einen freien Markt haben. Wir müssen bei den Möglichkeiten unserer Volkswirtschaft bleiben. Nicht ohne Grund ist sämtliches Gewerbe gegen die Einführung eines Mindestlohns.

Resener: Das stimmt nicht ganz. Wir haben dutzende Unternehmen, die unsere Kampagne unterstützen.

Avdili: Gut, aber die meisten Unternehmen sind dagegen. Ich wehre mich gegen diesen Vorwurf, dass dies alles böse Menschen sind, die keine guten Löhne bezahlen wollen.

Resner: Niemand sagt, dass sie böse sind. Aber es ist doch offensichtlich, dass hier ein Konflikt zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden herrscht. Genauso wie sie von sämtlichen Gewerbe sprechen, kann ich von sämtlichen Arbeitnehmer:innen sprechen. Dieser Konflikt beweist gar nichts.

Avdili: Klar, das Gewerbe weiss doch, was möglich ist und was nicht. Arbeitnehmende wissen nur, was sie wollen.

Resener: Das stimmt doch nicht. Sie behaupten, dass die Position vom Gewerbeverband objektiv ist und sie keine Eigeninteressen an tiefen Löhnen haben.

blankAvdili und Resener kommen auf keinen grünen Zweig. Einzig in einem Punkt sind sie sich einig: Der Mindestlohn bekämpft keine Armut. (Foto: Lara Blatter)

Werfen wir nicht alle Unternehmen in eine Topf. Es macht einen Unterschied, ob wir von einem kleinen Familienbetrieb einer grossen Detailhändlerin sprechen. Denn da ist wohl unbestritten, dass ihr Geschäftsmodell auf Tieflöhnen basiert.

Avdili: Ja, aber auch bei McDonalds arbeiten nicht alle unter dem geforderten Mindestlohn. Zudem ist den meisten Menschen der soziale Aufstieg ohne Mindestlohn gelungen, dafür bin ich als Kind von Einwanderer:innen das beste Beispiel.

Menschen wie Sans Papiers arbeiten ohne Arbeitsvertrag. Diese würden nicht vom Mindestlohn profitieren, obwohl sie unter den prekärsten Arbeitsbedingungen leiden. Könnte der Mindestlohn dazu führen, dass mehr Menschen illegal arbeiten, weil die Arbeitgeber:innen sie wegen dem Mindestlohn nicht anstellen können?

Resener: Klar, das kann es immer geben. Aber wir können Gesetze nicht von der Gefahr abhängig machen, dass sich Menschen nicht daran halten. Wir sprechen uns ja auch nicht gegen 30er-Zone aus, nur weil es sein könnte, dass immer noch welche mit 50 durchs Quartier rasen.

Avdili: Aber der Staat macht sich auch nicht glaubwürdig, wenn ein Gesetz nicht greift. Wir haben zum Glück keinen Staatsapparat, der alle Betriebe kontrolliert.

Resener: Das braucht es auch nicht. Ich mache mir keine Sorgen, dass die Mindestlöhne nicht eingehalten werden.

Die Schweiz stimmte im Jahr 2014 bereits einmal über einen Mindestlohn ab. Das Ergebnis zeigte deutlich: 76,3 Prozent der Schweizer Stimmbevölkerung sagten damals Nein zu der Vorlage. Wieso soll es in Zürich klappen?

Resener: Die Vorlage ist breit abgestützt und auch das Parlament steht dahinter. 2014 hatten wir das Problem vom einheitlichen Mindestlohn für die ganze Schweiz. Auch war das die Zeit der Masseneinwanderungsinitiative, mit der sehr stark mit den Ängsten der Bevölkerung gespielt wurde. Und diese jetzige Vorlage kam bereits in Kloten zur Abstimmung. Sie scheiterte zwar, aber Kloten ist sehr konservativ und wir erreichten doch eine Zustimmung von 48 Prozent. Heisst, es haben sich auch sehr viele Bürgerliche hinter das Anliegen gestellt. Darum bin ich zuversichtlich für Zürich und auch Winterthur.

Wie haben Sie in Kloten die Bürgerlichen für sich gewonnen?

Resener: Anständige Arbeit soll anständig bezahlt werden, das ist ein sehr bürgerlich verankerter Wert.

Përparim Avdili, würden Sie das unterschreiben?

Avdili: Selbstverständlich. Und das wurde durch die liberale Politik überhaupt möglich gemacht, diese hat die Schweiz dahin gebracht, wo wir heute stehen. Das ist der Stimmbevölkerung bestimmt bewusst und darum glaube ich, werden wir die Abstimmung gewinnen.

Zu den Personen

Björn Resener ist Gewerkschaftssekretär des Zürcher Gewerkschaftsbundes. Er hat Politikwissenschaften und politische Kommunikation studiert, selbst gehört er keiner Partei an. Das «Ein Lohn zum Leben»-Komitee unterstützt der 40-Jährige als Kampagnenleiter.

 

Përparim Avdili ist seit Mai 2022 Präsident der Stadtzürcher FDP. Der gelernte Bankfachmann sitzt zudem seit 2018 für die FDP auch im Gemeinderat der Stadt. Aufgewachsen ist der 36-Jährige in Altstetten.

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